Schulseelsorge in Corona-Zeit
Ein gutes Jahr Schulseelsorge in Corona-Zeit
am Overberg-Kolleg
Ich bin Schulseelsorgerin am Overberg-Kolleg, einem bischöflichen Weiterbildungskolleg, an dem junge Menschen ab 18 Jahren auf dem zweiten Bildungsweg das Fachabitur oder das Abitur nachmachen können. Nicht nur die Corona-Situation ist speziell, auch die Situation unserer Schule ist eine ganz eigene und die der Studierenden so vielfältig, wie sie selbst unterschiedlich sind mit ihren Herkünften und Lebensgeschichten. An unserer Schule sind junge Erwachsene, die in der Regel auf eigenen Füßen stehen und neben der Schule auch den Rest des Lebens selbst bewältigen müssen. Viele haben schon einige Schleifen im Leben gedreht, oft aus guten Gründen im ersten Bildungsweg noch nicht das Fachabitur oder Abitur gemacht oder als Jugendliche schlicht nicht die Idee gehabt. Sie haben Ausbildungen oder Abbrüche, Krankheiten, Verlust- oder Suchtgeschichten hinter sich (oder eben noch nicht hinter sich), die meisten leben selbstständig und nicht mehr in ihrer Herkunftsfamilie. Das macht ihre Situation herausfordernd – erst recht in Corona-Zeit. Schulseelsorge lebt mit all ihren Angeboten vor allem von einem guten Kontakt zu den Studierenden. Für sie gute und unterstützende Angebote zu machen war und ist, gerade in Zeiten von Lockdown und Distanzunterricht, immer wieder Experiment.
Unser Hauptanliegen als Schulseelsorger*innen war es, weiterhin da zu sein, in Kontakt, zu unterstützen und Kontakt zu stiften. So, wie es eben möglich war und ist. Und das hieß oft, einfach zu signalisieren: Wir sind da und so können Sie uns erreichen. Das haben viele genutzt. Gleichzeitig war es jedoch auch ein Arbeiten ins Offene, sehr unterschiedlich, wie viel – oder wie wenig – Resonanz zurückkam.
Manches habe ich allein gemacht, Vieles im Team mit meinem Kollegen Holger Bauer und alles immer wieder getragen und angeregt durch viele Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen, insbesondere des Beratungsteams, der Schulleitung und mit Studierenden.
Da sein und weiterhin nah sein – das haben wir auf ganz unterschiedliche Weise und mit den wechselnden Situationen in der Schule immer wieder neu und anders versucht.
Hier eine kleine Chronologie:
Als der Lockdown beschlossen wurde, war ich mit einer Gruppe von Lehrerinnen und Lehrern von verschiedenen bischöflichen Schulen zu Besinnungstagen auf Wangerooge. Von Pause zu Pause trudelten Nachrichten ein, wurden Szenarien diskutiert, ein anwesender Schulleiter blieb ganz gelassen, bei ihm in der Schule war schon alles geregelt, bevor das NRW-Kultusministerium überhaupt die Schulen informiert hatte (und das war spät am Freitagmittag). Die Fahrt auf der knallvollen Fähre zurück aufs Festland am Sonntag war wie die Fahrt in eine andere Welt. Zuhause in Münster war bereits alles wie ausgestorben, leere Straßen, keine Menschen zu sehen, das Land hielt den Atem an. Abends im heute-journal formulierte Klaus Kleber „Wir leben im Angesicht von Corona.“ – Nein, wir leben im Angesicht Gottes, dachte ich. Dennoch, die Formulierung hätte mich nicht so irritiert und amüsiert, hätte ich geahnt, wie lange dieses Virus die Welt bewegen und was es uns auch im Kolleg abverlangen würde.
Am Montagmorgen, 16. März 2020, beim geistlichen Impuls zu Beginn der außerplanmäßigen Lehrer*innenkonferenz auf Abstand in der Aula habe ich versucht, Worte zu finden für eine Situation, die wir alle noch nicht kannten, zum gemeinsamen Start einer „Fahrt auf Sicht“ (wie Schulleiter Ansgar Heskamp die Situation von Beginn an nannte und die er als Energie und Zuversicht versprühender Steuermann an Deck durch die verschiedenen Wetterlagen des letzten Jahres navigierte). Niemand von uns ahnte, wie lange das dauern könnte!
Was ist Aufgabe von Schulseelsorge in einer solchen unwägbaren und herausfordernden Situation?
In Kontakt sein, Ermutigung und Zuversicht zusprechen, an der Seite derer sein, denen es schwer fällt, mit der Situation umzugehen, die Verbundenheit untereinander stärken und dafür möglichst viele im Blick haben – die Studierenden und die Kolleginnen und Kollegen, Impulse verschicken, online dasein, am Telefon und ganz normal in Raum 13 und überall im Kolleg. Kontakt, Dasein und Beratung – der diakonische Auftrag von Schulseelsorge – hatten und haben für uns Vorrang davor, gottesdienstliche Angebote aufrecht zu erhalten. Soviel vorweg: Während andere Schulseelsorgekolleg*innen medial zur Höchstform aufliefen (und ich sage das mit Wertschätzung und Respekt), haben wir (fast) keine Gottesdienste gestreamt und keine geistlichen Impulse per Video gepostet. Dennoch: Zwischen „nichts geht“ und „alles geht“ geht Vieles!
Was haben wir konkret gemacht?
- Am Beginn im ersten Lockdown habe ich eine Weile lang täglich eine Ermutigungsmail mit dem Titel „Sprung in den Tag“ verschickt mit Anregungen und Vorschlägen, aktiv zu bleiben, gut für sich selbst zu sorgen, mit anderen in Kontakt zu bleiben, sich den Tag sinnvoll und unterstützend zu strukturieren… „Was haben Sie in den letzten Wochen erlebt oder gelernt, was Sie ohne Corona nicht gelernt oder erlebt hätten?“ – alles war noch ganz neu.
Der Subtext lautete eigentlich immer auch: Ich bin da, Sie können mich erreichen, im Kolleg, online, am Telefon, auf Zoom/Teams… und das wurde von Studierenden auch genutzt. - Immer wieder habe ich in unterschiedlicher Weise per Mail einen Gedanken, eine Ermutigung und die Einladung, mit mir in Kontakt zu sein, verschickt, nicht nur an die Studierenden, sondern auch an die Kolleginnen und Kollegen: „Ich bin jetzt gerade auch für euch und Sie da mit einem offenen Ohr, mit einer Portion Gelassenheit und Ermutigung oder mit dem Mittragen von Sorgen und Ängsten.“
- Im Beratungsteam haben wir uns ausgetauscht über das, was wir von den Situationen der Studierenden wahrnehmen: finanzielle Probleme, weil der Nebenjob wegbricht, verschiedene persönliche Themen, die durch Corona getriggert werden und alte Muster auslösen, Furcht, Sorgen, Ängste, Einsamkeit – viel emotional Herausforderndes. Dabei Schwierigkeiten mit mangelnder Selbstfürsorge, Selbstdisziplin und Regelmäßigkeit der schulischen Beteiligung. Die Reaktion der Studierenden war insbesondere zu Beginn der Corona-Situation völlig unterschiedlich und reichte von „mir fällt die Decke auf den Kopf“ über „ich genieße das Leben auf der Dachterrasse“ oder „das muss die Schule alles ganz anders organisieren“, von Gelassenheit über Angst und Sorge bis hin zu völligem Abtauchen. Für viele war es mit der Zeit immer schwieriger, schulisch am Ball zu bleiben. Immer wieder haben wir als Kollegium versucht, im Blick zu behalten, welche Studierenden im Distanzlernen nicht mehr auftauchten, haben Kontakt gesucht, nachgehakt und versucht zu motivieren.
- Ein Angebot neben dem beständigen Kontaktangebot war eine Zusammenstellung von Tipps „Selbstfürsorge in Corona-Zeiten – wie du gut durch die Zeit der Pandemie kommst“, die wir vom Beratungsteam als Datei und als padlet verschickt haben.
Und manchmal ging es auch einfach darum, auf die anderen Unterstützungsangebote des Kollegs, z.B. die Corona-Tutorien, aufmerksam zu machen und Kontakte zwischen Studierenden zu initiieren. - Immer wieder – je nach Gesamtsituation – ging es auch darum, einzelne Studierende und Kolleg*innen im Blick zu haben und in Kontakt zu sein, z.B. mit denen, die aufgrund einer eigenen Infektion oder als Kontaktperson in Quarantäne waren oder aufgrund einer Vorerkrankung nicht ins Kolleg kommen durften.
- Wir haben versucht, analoge Angebote ins Digitale zu übertragen, z.B. zum „Morgenmahl auf Zoom“ (einem gemeinsamen Frühstück, zu dem die Schulseelsorge im normalen Leben in die Aula einlädt) oder auch zum „Kaffeeklatsch für Studierende“ eingeladen, um Kontakt untereinander außerhalb des Unterrichts zu ermöglichen. Oder auch viel später, als der Stundenplan als Unterricht per Video-Konferenzen fest etabliert war, eine „Mittagspause“ per Video-Konferenz als Angebot eines geistlichen Impulses. Die Resonanz war so überschaubar, dass wir die Angebote eingestellt haben.
- Groß war die Resonanz auf small gifts an besonderen Schwellenzeiten:
* Als im Mai 2020 zum ersten Mal die Schule wieder aufmachte, begrüßten wir alle Studierenden und Kolleg*innen mit einem „Start-Paket“ mit einer Stärkung für Leib (Müsliriegel) und Seele (Segenstext) und einem Teelicht mit der Einladung, für ein Anliegen oder einen Herzenswunsch in der Kapelle ein Licht zu entzünden. Noch nie habe ich junge Menschen gesehen, die sich so darüber freuen, wieder zur Schule gehen zu dürfen!
* Wir verteilten Begrüßungskarten und gestalteten Overberg-Tassen für die Neuen zum Semesterstart,
* Zum Zeugnis im Januar 2021 bekamen alle eine Karte „Alles Gute und ahoi!“ mit Brause als prickelnde Stärkung und mit der Zuversicht „Land in Sicht“. - Unser Anliegen war und ist es, weiterhin das Geistliche sichtbar zu machen und die religiösen Feste und Zeiten zu gestalten. Dabei haben wir auf analoge, manchmal vielleicht auch etwas skurrile Aktionen gesetzt, z.B.:
* zu Pfingsten schwebten Luftballons mit Geist im Kolleg,
* im Advent gab es für die, die in der Schule waren, geistliche Impulse per Lautsprecherdurchsage, eine besonders adventlich-gemütlich eingerichtete Kapelle und statt des adventlichen Frühstücks im Kollegium Blind-date-Verabredungen zu einem Walk to talk zu zweit.
* An Aschermittwoch am Nachmittag eine Einladung zum Segen am Feuer draußen, die von einer kleinen Runde wahrgenommen wurde und uns ermöglichte, auch in Corona-Zeit gemeinsam zu beten.
* In der Fastenzeit und zu Pfingsten 2021 habe ich zu den online-Exerzitien des Bistums eingeladen und mich einige Wochen lang mit einer kleinen feinen, kollegialen Exerzitien-Gruppe auf Teams zu Stille und Austausch getroffen.
* Zu Ostern gab es Karten mit Kraftworten an der Leine zum Mitnehmen und einen Ostertext mit Saatbombe für die Kolleginnen und Kollegen.
* Die „großen Gottesdienste“ zum Semesterbeginn oder zum Abitur wurden konzentriert auf einen kurzen Impuls und ein Give-away mit Geist und Segen – so wie es eben ging auf Abstand, draußen im Stehen. - Ein digitaler Ermutigungsversuch war die Video-Clip-Aktion „Was tut mir gut in Corona-Zeit“, die wir auf den sozialen Medien gepostet haben. Nicht völlig überraschend für uns haben sich eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen hieran aktiv beteiligt. Die Studierenden haben die Aktion eher passiv zur Kenntnis genommen. Spaß gemacht hat es trotzdem.
- Die größte Resonanz hat die analoge Briefverschickung zur Fastenzeit gehabt. Angelehnt an einen griechischen Frühlingsbrauch haben wir an alle Studierenden und Mitarbeitenden des Kollegs mit der Post Briefe verschickt mit einem Bändchen und der Einladung, das Bändchen als Zeichen der Verbundenheit miteinander am Handgelenk zu tragen. Viele habe dies getan, noch mehr haben sich bedankt und sich über die Post gefreut. Zur Beendigung dieser Aktion in der Overberg-Stunde vor den Osterferien kam unter offenem Himmel am Apfelbäumchen auf der Wiese eine schöne Runde zusammen, um die Bändchen in den Baum zu hängen und sich auf Ostern zu freuen (und auf die Ferien natürlich).
An dieser Stelle möchte ich einmal ausdrücklich sagen, wie unterstützend der Kontakt mit Schulseelsorge-Kolleginnen und Kollegen anderer Schulen für mich ist. Gerade in der Corona-Situation, in der Vieles so herausfordernd ist und in der wir alles immer wieder neu denken und entwickeln müssen, war und ist der Austausch sehr bereichernd. Und längst nicht alle Ideen (z.B. die Briefaktion) mussten wir selbst haben.
Eine besondere Herausforderung war die Nachricht vom Suizid eines Studierenden am letzten Tag der Distanz-Phase im Februar 2021, über die wir das betroffene Semester über Teams-Konferenzen informieren mussten. Was in dem Moment, in dem man von einem so schrecklichen Ereignis erfährt, nicht an Nähe und gemeinsamem Aushalten möglich ist, lässt sich nicht so leicht ersetzen und nachholen. Das war schwer und anstrengend. Die Ereignisse und Erfahrungen, die uns besonders treffen und herausfordern, sind auf Distanz und damit in Vielem auf sich selbst verwiesen, noch schwerer zu ertragen und zu bewältigen, das merken wir auch in vielen Beratungsgesprächen. Immerhin konnte die betroffene Jahrgangsstufe am darauffolgenden Montag zum Präsenz-Unterricht ins Kolleg kommen, so dass viele Gespräche und etwas Alltag möglich waren. Die einzelnen gut im Blick zu haben, war jedoch eine große Herausforderung und konnte nur im Team von Krisenteam, Stufenleitung und Beratungsteam bewältigt werden. Der Gedenkort in der Kapelle und die Gedenkfeier auf der Wiese unter offenem Himmel haben geholfen, das miteinander auszuhalten.
Insgesamt – über das Panorama der Corona-Zeit in der Schule geblickt – haben wir…
… geplant, umgeplant, verworfen, zusammengeschmolzen, abgesagt, nochmal umgestrickt…. Gottesdienste, Erstsemester-Tage, Pilgerangebote, Morgenmahl in verschiedensten Varianten, Projekttage reduziert aufs Mögliche;
… Gespräche geführt und beraten zwischen Tür und Angel, in der Raucherecke, am Apfelbäumchen, zwischen den Feldern, draußen am Stehtisch, auf der Wiese, am Feuer, am offenen Fenster, in der Kapelle, am Telefon, im Chat, per Mail, auf Zoom und Teams…
… Corona-Regeln diskutiert und zig Gespräche geführt, wie Leben und wie Schule gehen kann in dieser Zeit;
… angemailt, angerufen, nachgehakt, zugehört, ermutigt, getröstet, Kaffee und Tee ausgegeben – so wie sonst auch, aber auf Brot und Butter verzichtet.
Über ein Jahr Fastenzeit.
Was ich besonders vermisst habe:
Viel lebendigen, direkten live-Kontakt mit Studierenden und Kolleg*innen – und dazu gehört vor allem Spontanität und Humor – und die Angebote in der Overberg-Stunde wie das Morgenmahl in der Aula, die Meditationen und Gottesdienste im kleinen Kreis in der Kapelle.
Was mich immer wieder motiviert hat und motiviert:
- Dass es in Vielem gelungen ist, die Studierenden zu motivieren, zu unterstützen und im Kontakt und im Lernen zu halten.
- Mein Schulseelsorge-Kollege Holger Bauer an meiner Seite.
- Das Interesse, die Unterstützung und die große Wertschätzung durch Schulleitung, Kolleginnen und Kollegen und Studierende.
- Schlicht das Privileg, arbeiten zu können, während viele Menschen in Existenzängste geraten, Homeoffice machen mit Kleinkindern auf dem Schoß oder unter Einsamkeit leiden.
- Und dazu jederzeit auch ins Kolleg fahren zu können und dort in besonders schwierigen Situationen die Osterkerze anzünden zu können.
- Und das Vertrauen: Ja, wir leben immer noch in Corona-Zeit, vor allem aber in der Gegenwart Gottes.
Ich bin überzeugt,
- dass diese Zeit innerlich mehr mit uns macht, als wir meistens merken,
- dass wir Selbstfürsorge und Gesundheit mehr denn je im Blick haben sollten
- und dass wir – und damit meine ich alle Mitarbeitenden des Overberg-Kollegs und überhaupt in Schule – einen relevanten Dienst tun. Mehr denn je.
Wenn jetzt wieder alle Studierenden ins Kolleg kommen, sind die Kolleginnen und Kollegen zumindest einmal geimpft, von den Studierenden nur sehr wenige. Es gibt keine Startpakete, denn fast alle waren ja im Wechsel immer schon mal wieder da. Viele freuen sich, andere haben ungute Gefühle oder Sorgen. Einige fehlen, die es trotz unserer Bemühungen nicht geschafft haben, gut durch diese Zeit zu kommen.
Wir hoffen, dass es gut gehen und uns gut tun wird.
Und ich bin sicher, mehr noch als Ende Januar: Es ist Land in Sicht.
Marietheres Eggersmann-Büning, Münster im Mai 2021